Das Märchen von der britischen Einzigartigkeit

Opinion piece (Spiegel Online)
Simon Tilford
29 April 2017

Die meisten Länder halten sich für etwas Besonderes. Aber nur wenige haben sich dazu hinreißen lassen, aus diesem Gefühl heraus ihre Interessen in dem Maße zu schädigen wie es Großbritannien momentan tut. Britische Politiker, Wirtschaftsvertreter und Leitartikler sind bemerkenswert zuversichtlich, dass Großbritannien außerhalb der EU gedeihen wird. Natürlich kritisieren auch Franzosen und Deutsche die EU, doch sind sie nicht ernsthaft der Ansicht, dass die EU es ihnen erschwert, ihre jeweiligen nationalen Interessen zu verfolgen. Die britische Überheblichkeit ist nicht zu rechtfertigen - das Vereinigte Königreich braucht die EU ebenso sehr wie Deutschland oder Frankreich.

Warum glauben die Briten, die EU nicht zu brauchen?

Die Briten sind weniger eurozentrisch und antiamerikanisch als viele andere Europäer und eher geneigt, in außereuropäische Länder umzuziehen. Großbritanniens globaler Einfluss ist weitreichender als der anderer EU-Länder, mit einem ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat, ernst zu nehmenden militärischen Fähigkeiten und einem Atomwaffenarsenal. Eine ähnliche Position nimmt innerhalb Europas nur Frankreich ein. Aber die französische Elite glaubt nicht, dass die Fähigkeit Frankreichs, die eigenen Interessen zu verteidigen, von ihrer EU-Mitgliedschaft eingeschränkt wird. Die Franzosen haben immer verstanden, dass Frankreich nur eine bedeutende globale Macht bleiben kann, indem es seinen Einfluss in der EU nutzt. Die Vorteile der EU-Mitgliedschaft für Deutschland liegen auf der Hand: Nach dem Zweiten Weltkrieg verlieh das multilaterale EU-Projekt dem Land Respekt und Legitimität. Die EU ermöglichte es den Deutschen, sich auf internationaler Ebene zu rehabilitieren.

Warum glauben viele britischen Eliten, dass sie im Gegensatz zu den Franzosen und den Deutschen die EU nicht brauchen? Ein Grund dafür ist ihre eigene rosarote Sicht der britischen Geschichte. Zwar musste Großbritannien seinen internationalen Ruf nach dem Krieg nicht im selben Maße wieder aufbauen wie Deutschland. Aber zu viele sehen Großbritannien als Leuchtfeuer der Demokratie und Freiheit. Zu wenige sind sich bewusst, dass als Konsequenz der britischen Kolonialgeschichte Großbritannien weniger vertraut und bewundert wird, als sie es sich vorstellen. Die EU-Mitgliedschaft der Briten hat oft dazu beigetragen, diese historischen Spannungen zu mildern: Indem es häufig als Brücke zwischen der EU und den USA agierte, gewann Großbritannien überproportional an Einfluss.

Feindseligkeit, bestenfalls Ambivalenz

Ein zweiter Grund für die Feindseligkeit - oder bestenfalls Ambivalenz - der britischen Elite gegenüber der EU ist, dass London nur ungern die zweite Geige hinter der deutsch-französischen Partnerschaft spielt. Seitdem sich Großbritannien 1973 für den Beitritt zur damaligen EWG entschied, hat die Union für die Briten den Beigeschmack eines deutsch-französischen Projekts, welches französische und deutsche Interessen über die Großbritanniens stellt. Die britische Elite konnte nie ganz ein europäisches Projekt unterstützen, deren Institutionen unzureichend britisch geprägt waren. In Verbindung mit der britischen Aversion gegenüber jeglicher Souveränitatsaufgabe trägt dieser Eindruck maßgeblich zur britischen Abneigung gegen die EU bei.

Großbritanniens Gefühl wirtschaftlicher Unverwundbarkeit ist noch rätselhafter. Warum glaubt ein Land, das deutlich ärmer ist als Deutschland, mit weniger international wettbewerbsfähigen Branchen und stärkerer Abhängigkeit von ausländischem Kapital und Management-Know-how, dass es sich leisten kann, den Binnenmarkt zu verlassen?

Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Großbritanniens ist nicht besser als die Frankreichs und in manchen Bereichen, zum Beispiel bei der Produktivität, sogar deutlich schlechter als die der Franzosen. Dennoch glaubt niemand aus Frankreichs politischem Mainstream ernsthaft, dass die französische Wirtschaft außerhalb der EU besser gedeihen könnte.

Bestenfalls mittelmäßiges Wachstum

Ein Großteil der britischen Elite weiß wenig darüber, wie die britische Wirtschaft im Vergleich dasteht. Wenigen ist bewusst, dass drei Viertel des Landes ärmer sind als der EU-15-Durchschnitt, dass das Wachstum der britischen Wirtschaft bestenfalls mittelmäßig war oder dass es relativ wenige britische Unternehmen gibt, die starke Wachstumsraten vorweisen können.

Es gibt durchaus Lichtblicke in der britischen Wirtschaft, diese sind aber in hohem Maße ausländischem Kapital und Fachwissen geschuldet. Ausländische Unternehmen generieren mehr als die Hälfte der Exporte des Landes, und viele dieser Exporte sind Komponenten und Vorleistungen, die in europäischen Lieferketten weiterverarbeitet werden. Diese Unternehmen sind besonders anfällig für die Folgen von Großbritanniens Austritt aus dem Binnenmarkt.

Wäre die britische Wirtschaft stärker in britischer Hand, wäre der britische Optimismus über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit leichter zu verstehen. Aber dass ein so hoch entwickeltes Land, das so abhängig ist von ausländischem Kapital, etwas tut, das so schädlich für die eigene Fähigkeit ist, dieses Kapital anzuziehen, ist wirklich außergewöhnlich.

Ein Großteil der britischen Elite lebt in London, Europas einziger wirklich globaler Stadt - das verführt zu der Annahme, dass Großbritannien wichtiger und mächtiger, die britische Wirtschaft dynamischer ist, als es der Realität entspricht. London ging es die letzten 30 Jahre sehr gut. Aber ein Großteil des Londoner Wohlstands ist dem Erfolg der Stadt geschuldet, sich innerhalb der europäischen Arbeitsteilung erfolgreich zum Zentrum von Finanz- und sonstigen Unternehmensdienstleistungen aufzuschwingen.

Ein weiterer wichtiger Grund für die britische Brexit-Selbstgefälligkeit ist, dass ein Großteil der Elite glaubt, die EU sei ein verkrustetes Projekt und wirtschaftlich ein Misserfolg. Natürlich steht die EU vor ernst zu nehmenden Herausforderungen, aber sie ist weit entfernt von der britischen Karikatur einer protektionistischen, insularen und wirtschaftlich illiberalen Union. In Wirklichkeit ist der Binnenmarkt der EU offener als der US-Markt. Und die EU hat eine gute Bilanz, wenn es um das Aufrechterhalten von Werten geht, die Großbritannien oft stolz hochhält: Völkerrecht, Menschenrechte und eine geregelte Handelsordnung zum Beispiel.

Großbritannien steuert auf eine Demütigung zu. Die ohnehin schon mittelmäßigen Wachstumsaussichten werden sich weiter verschlechtern. Entfremdet von seinen engsten Verbündeten - dem Rest der EU - wird Großbritannien wenig internationalen Einfluss ausüben können. Wenn die Realität sich irgendwann nicht länger verdrängen lässt, könnte dies die britischen Eliten dazu veranlassen, auf einen Wiedereintritt zu drängen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Großbritannien sich der EU tatsächlich irgendwann wieder anschließen - das jedoch unweigerlich zu nachteiligeren Bedingungen als denen, die London bisher hatte. Es wird dann die nächsten 20 Jahre damit verbringen müssen, den Einfluss, den es so beiläufig weggeworfen hat, mühsam wieder aufzubauen.

Simon Tilford is deputy director of the Centre for European Reform.